„Aktivisten, Nahverkehrsexperten und Politik reden oft aneinander vorbei“

Wolfgang „Wolle“ Geißler ist einer der beiden Sprecher der Initiative „Einfach Einsteigen“; Foto: Lukas Klose

Im Rekordtempo hat eine Bremer Basisinitiative die „Öfficon“ auf die Beine gestellt. Wolfgang Geißler (Jg. 1985) ist einer der beiden Sprecher dieses Kongresses für alternative Nahverkehrsfinanzierung und der dahinterstehenden Initiative. Kurz vor dem Startschuss hat er NaNa-Brief-Chefredakteur Markus Schmidt-Auerbach Fragen zur Realität und Vision der Onlineveranstaltung gestanden.

NaNa-Brief: Ab übermorgen, 16. März 2021, richten Sie die Öfficon aus, eine viertägige internationale Nahverkehrskonferenz, die vom Umweltbundesamt und auch vom Bundesumweltministerium gefördert wird. Wer steckt hinter dem in wenigen Wochen aufgezogenen Projekt?

Wolfgang Geißler: Neben dem UBA und dem BMU gehören übrigens auch die ökologisch und gemeinnützig ausgerichtete GLS Treuhand und die Energiewerke Schönau zu unseren Förderern. Aber zur Frage: Hinter der Öfficon- Konferenz „Nahverkehr neu denken!“ steckt die Initiative „Einfach Einsteigen“.

NaNa-Brief: Und wer steckt hinter „Einfach Einsteigen“?

Geißler: Meinen Mitstreiter Mark Wege, einen ehemaligen Mitarbeiter von Locomore, und mich hat umgetrieben, dass der Nahverkehr in Bremen im Vergleich mit anderen Ballungsgebieten relativ schlecht entwickelt ist. Das ist für die Umwelt nicht gut, es ist aber auch für die ökonomische und soziale Entwicklung unserer Stadt und unserer Region von Nachteil.

NaNa-Brief: Was ist die Kernforderung Ihrer initiative?

Geißler: Wir fordern, dass der Nahverkehr anstatt über Tickets und Subventionen in Zukunft über eine paritätische Umlage finanziert wird. Wir haben dabei die alten Debatten über Nulltarif und Fahrscheinfreiheit aufgenommen und weiterentwickelt. Bislang wird in aktivistischen Kontexten zu häufig unterschätzt, dass ein Gratis-ÖPNV nicht automatisch dazu führt, dass die Menschen / Leute / Bürger*innen ihr Auto abschaffen. Das tun sie nur, wenn das Angebot stimmt! Dafür muss aber erstens die jahrzehntelang vernachlässigte Infrastruktur ausgebaut werden. Und zweitens muss der Betrieb finanziert werden. Heute fehlen den Kommunen dafür aber die Geldmittel. Die Forderung nach einem Gratis-Nahverkehr wird deshalb in der Politik oft als spinnerte linke Position wahrgenommen und reflexhaft abgelehnt. Deshalb haben wir ein realistisches Finanzierungsmodell aufgestellt und treffen damit auf reges Interesse im gesamten politischen Spektrum.

NaNa-Brief: Was hat diese Erkenntnis für Ihr Konzept bedeutet?

Geißler: Aufbauend auf unserem Doppelansatz haben wir 2019 eine Petition gestartet. Unser Ziel: Für den Betrieb und Unterhalt des Nahverkehrs wird eine paritätische Umlage einführt, die jeweils zur Hälfte von den Bürgern und der Wirtschaft bezahlt wird. Wir haben das durchgerechnet und schlagen vor, dass alle Bremer über 18 Jahre monatlich 19,76 Euro Nahverkehrsbetrag bezahlen. Wer wenig Geld hat, zahlt nur 10 Euro und die Wirtschaft beteiligt sich mit einer Gewinnabgabe von 3,23 Prozent. Die 80 Millionen öffentlicher Zuschüsse werden dann frei und können jedes Jahr für Investitionen ins Netz verwendet werden.

NaNa-Brief: Wer in einem ÖPNV-unterversorgten Gebiet wohnt, wird nicht bezahlen wollen, weil er nichts zurückbekommt!

Geißler: In unserem Konzept gibt es zwei Gegenleistungen zurück: die Fahrscheinfreiheit sofort, und dazu, Schritt für Schritt, ein Netz- und Angebotsausbau. Dazu wird mit der Umlage ein verbindlicher Stufenplan verabschiedet.

NaNa-Brief: Eine Umlage wäre ein radikaler Bruch mit der heutigen Finanzierung, die sich im Wesentlichen auf Nutzerbeiträge und staatliche Zuschüsse stützt. Bislang findet sich dafür weder im Bundesrat noch im Bundestag eine Mehrheit. Kann dieser Ansatz erfolgreich sein?

Geißler: Zunächst mal ist eine solche Umlage Ländersache. Deshalb hat die neue Bremer Koalition 2019 einen Prüfauftrag für eine Fahrscheinfreiheit in Auftrag gegeben. Das beweist, dass die Politik ein realistisches Konzept aufgreift, wenn es nicht nur wenigen einzelnen, sondern den Bürgern, der Wirtschaft und auch noch dem Klima nützt. Auch die Bremer CDU ist in diesem Bereich offener, als viele denken mögen. Diese breite gesellschaftliche Akzeptanz liegt uns am Herzen. Aktivisten, Nahverkehrsexperten und Politik reden oft aneinander vorbei. Jede Gruppe argumentiert aus der eigenen Sicht, ohne die Zwänge und Bedürfnisse der anderen Akteure zu kennen. Selbst die optimalste fachliche Lösung nützt nichts, wenn sie politisch nicht durchsetzbar ist.

NaNa-Brief: Was hat das mit der Öfficon zu tun?

Geißler: Mit unserem „Basiskonzept für einen fahrscheinfreien Nahverkehr in Bremen“ haben wir gezeigt, dass das Thema „alternative Nahverkehrsfinanzierung“ hoch aktuell ist und man relevante Gruppen ins Gespräch bringen kann. Mit der „Öfficon“ wollen wir diese Grenzen weiter überwinden und unseren Ansatz über Bremen und das VBN-Gebiet hinaustragen. Wir wollen bundesweit und sogar international einen Dialog anstoßen.

NaNa-Brief: Soweit die Theorie. Wie sieht die Realität aus?

Geißler: Mit dem SPD-Politiker Andreas Bovenschulte haben wir unseren Bremer Regierungschef für das Öfficon-Podium gewonnen. Dazu kommen weitere Politiker aus der Koalition, aber auch der Opposition und aus diversen gesellschaftlichen Gruppen. Der Luxemburger Verkehrsminister François Bausch, der in seinem Heimatland einen fahrscheinfreien Nahverkehr eingeführt hat, wird mit Phil Washington diskutieren, der eine ähnliche Vision für die Auto-Hochburg Los Angeles entwickelt.

NaNa-Brief: Washington verfolgt ja einen ähnlichen Ansatz wie Sie: einen fahrscheinfreien Nahverkehr als ein Element eines sozial-ökonomisch-ökologischen Aufbruchs „nach Corona“, gekoppelt mit einem bürgerfinanzierten Infrastrukturausbau. Im NaNa-Brief 6/21 haben wir darüber berichtet. Wen haben Sie außerdem zur Öfficon eingeladen?

Geißler: Dialog beginnt immer mit dem Verständnis und der Neugier auf den anderen. Wir haben unterschiedliche Formate entwickelt, um den Teilnehmern auch den direkten persönlichen Austausch zu ermöglichen. Neben Politikern sprechen ÖPNV-Experten, unter anderem Holger Kloth vom VDV Niedersachsen/ Bremen, aber auch Aktivisten aus verschiedenen Gruppen, beispielsweise von Fridays for Future. Wir haben auch Mira Ball von Verdi gewonnen. Denn ohne bessere Arbeitsbedingungen werden wir den angepeilten ÖPNV-Ausbau nicht bewältigen.

NaNa-Brief: Warum sollte „Mann“ sich in die Öfficon-Diskussionsrunde „Feminismus & die Verkehrswende“ einwählen?

Geißler: Das ganze System des Verkehrs ist bislang stark am Auto orientiert, worin überproportional häufig Männer unterwegs sind. Feministische Ansätze hinterfragen diese Strukturen und suchen nach Lösungen. Damit die Verkehrswende gelingt, müssen Frauen, aber auch andere Gruppen im Nahverkehr passende Angebote finden, müssen sich zum Beispiel zu jeder Tageszeit sicher fühlen. Generell ist es für die Politik, aber auch die Branche wichtig, Bus und Bahn aus der Kundensicht zu „denken“, um ihr Produkt kundengerecht zu entwickeln. Auch die Niederflurigkeit haben nicht die Verkehrsbetriebe vorangetrieben, sondern Aktivisten sind damit auf den Plan getreten und mussten drängen. Bis die Experten dann gemerkt haben, dass nicht nur ihr Aufwand steigt, sondern auch ihr Nutzen, in Form kürzerer Fahrgastwechselzeiten und eines insgesamt attraktiveren ÖPNV.

NaNa-Brief: Wie viele Teilnehmer erwarten Sie zur Öfficon?

Geißler: Stand Montagmittag haben sich 276 Personen registriert. Die Teilnahme ist kostenfrei, aber wir bitten um einen Solidaritätsbeitrag, um die hohen Kosten zu decken. Wir rechnen bis Donnerstag mit weiteren Anmeldungen. Als coronagerechtes, rein digitales Format können wir auch kurzfristig noch Anmeldungen annehmen.

NaNa-Brief: Haben Sie vorher Erfahrungen mit dieser Veranstaltungsform sammeln können?

Geißler: Mit einem Kongress dieser Größenordnung definitiv nicht. Allerdings haben wir bereits zwei Barcamps mit vierzig bis sechzig Teilnehmern organisiert. Der Verein „Einfach Einsteigen“ beschäftigt drei feste Mitarbeiter mit jeweils 30 Wochenstunden Arbeitszeit, aber ohne unsere vielen ehrenamtlichen Helfer*innen und unsere „Praktis“, denen ich auch hier ausdrücklich danke, wäre dieses große Projekt nicht zu stemmen. (msa)

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Artikel Redaktion Bus&Bahn
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