„Carsharing-Fahrzeuge disponieren sich nicht selber um“

Die Hamburger Civity Management Consultants haben in einer Big-Data-Analyse weltweit 18 Mio. Anmietungen von Free-Floating-Carsharingsystemen untersucht. Welche Marktbedeutung hat der neue Mitspieler im urbanen Mobilitätsmix für den öffentlichen Personenverkehr, wollte Chefredakteur Markus Schmidt-Auerbach von Stefan Weigele erfahren. Der Civity-Partner hat die Studie „Urbane Mobilität im Umbruch“ mit verfasst.

Herr Weigele, der Nahverkehr züchtet sich mit Carsharing eine Natter an der eigenen Brust. Das sagen jedenfalls Kritiker der neuen Kombiangebote. Nun hat Civity das Marktpotenzial der Systeme untersucht, die sich per Smartphone buchen und im Minutentakt bezahlen lassen. Wie steht es nun wirklich um diese Free Floating Carsharer (FFC) – sind sie Freund oder Feind des Nahverkehrs?
Stefan Weigele: Ich würde sagen: Die Chancen stehen 50 zu 50. Vertreter großer Branchenunternehmen wie BVG-Chefin Sigrid Nikutta oder Hochbahn-Vorstand Günter Elste haben hier Potenzial erkannt und für ihre Unternehmen Modellprojekte und Kooperationen angeschoben. Auch die Stadtwerke in Münster und andere Städten klinken sich ein und bieten ein „Stadtteilauto“ ergänzend zu ihrem Grundprodukt. In unserer Studie „Urbane Mobilität im Umbruch“ haben wir jetzt herausgefunden: Die verkehrliche Bedeutung ist marginal. FFC ist aktuell kein großer Umsatzhebel, aber damit auch keine Bedrohung, zumindest nicht in den Metropolen. Aber es ist ein wunderbarer Baustein im Marketingmix.
Marginale Bedeutung – was heißt das konkret?
Weigele: Nehmen wir das Beispiel Berlin, wo sich drei FFC-Systeme tummeln: „Drive now“ von BMW, „Car2Go“ von Daimler sowie „Multicity“ von Citroen. Trotz dieses nahezu flächendeckenden Angebots kommen diese Mobilitätsalternativen aber nur auf einen Modal-Split-Anteil von 1 Promille. Der Taxiverkehr bewältigt mit 1 Prozent zehnmal so viel, der ÖPNV sogar 26 Prozent. Die BVG setzen über 900 Millionen Euro um, die drei Berliner FFC-Anbieter gerade einmal 14 Millionen.
Hilmar von Lojewski, der Verkehrsdezernent des Städtetags, gab bei einem Vortrag einmal die Beobachtung wieder, dass sich Carsharing-Autos abends in den Wohngebieten der Mittelschicht ballen, morgens hingegen rund um die fußläufig entfernten S-Bahnhöfe. Ist Carsharing also vor allem ein Mittel, um den Zweit- oder Drittwagen einzusparen – oder ist es ein Mittel, um dem Nahverkehr neue Kunden zuzuführen?
Weigele: In der Tat ermöglichen FFC eine motorisierte „Bequemlichkeitsmobilität“ im Nahbereich. Ein Großteil der Fahrten findet auf Distanzen unter fünf Kilometern statt, in und zwischen den Szenevierteln der Großstädte. In der Carsharing-Hauptstadt Berlin sind das die Stadtteile Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Kreuzberg. Tangentialverbindungen, die am Abend nur mit einem Umstieg erreicht werden, sind bei den Mietern besonders beliebt. Wartezeiten, längeren Reisezeiten oder sogar ein Anschlussrisiko im ÖPNV geht man mit dem flexiblen Carsharing aus dem Weg.
Das Carsharing ergänzt also den ÖPNV, es ersetzt ihn nicht?
Weigele: Genau. Wo Bus und Bahn ein ideales Angebot vorhalten, bleiben sie vor allem in den Großstädten unschlagbar. Der Nahverkehr bleibt als Rückgrat der urbanen Mobilität weiterhin unverzichtbar – zumal sich die kleinen Carsharing-Fahrzeuge nicht von selbst in die Zonen der größten Verkehrsnachfrage umdisponieren, sondern die meiste Zeit ungenutzt herumstehen.
Das könnte sich mit dem selbstfahrenden Google-Auto aber ändern!
Weigele: Bis dahin vergehen noch Jahrzehnte. Und den enormen Flächenbedarf eines Pkw reduziert man dadurch auch nur begrenzt. Den Verkehrskollaps haben wir doch heute! Großstädtische ÖPNV-Kunden sind offensichtlich bereit, zur Abrundung ihres Mobilitätsbedarfs noch ein paar Euro extra in die Hand zu nehmen.
Gibt es neben dem Marketingaspekt weitere Bereiche, warum sich die Beschäftigung mit dem Carsharing für Verkehrsunternehmen und -verbünde lohnt?
Weigele: Es gibt einen Trend zur Online-Mobilitätsvermittlung, der einschlägigen Portalen eine große Marktmacht geben wird. Die Autoindustrie arbeitet ja bereits in diese Richtung. Und sie kann ihre FFC-Geschäftsmodelle relativ leicht skalieren. Wir schätzen, dass sich 2020 ein weltweites Umsatzpotenzial von 1,4 Milliarden Euro für das Free-Floating-Carsharing ergibt.
Vorausgesetzt, die Anbieter geben in den nächsten Jahren ordentlich Gas und steigern sich von heute 30 auf dann 140 Systeme weltweit. Sie müssten darüber hinaus auch ihre Preissysteme und die Auslastung weiter optimieren.

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Interview von Ausgabe 35/14
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