„Das geht gar nicht“

Mit UITP-EU-Direktorin Brigitte Ollier hat Markus Schmidt-Auerbach über die Vorzüge, aber auch die Probleme der Leitlinien der EU-Kommission zur Verordnung 1370/07 gesprochen. Die Branche will sich weiter für eine IT-Modernisierung des Vertriebs einsetzen, aber sie lehnt zentrale Vorgaben der Brüsseler Behörde kategorisch ab.

Frau Ollier, die EU-Kommission hält die Verordnung 1370/07 offenbar für kompliziert. So kompliziert, dass sie dazu vor kurzem eine amtliche Interpretation herausgegeben hat. Aber auch die sogenannten Leitlinien scheinen kein Selbstläufer zu sein. Denn die Generaldirektion Verkehr (GD MOVE) hat am 18. Juni eine Konferenz über „Rechtsklarheit für Effizienzverbesserung im öffentlichen Verkehr“ nachgeschoben. Wie sehen Sie die Leitlinien: Bringen Sie Klarheit?
Brigitte Ollier: Die UITP als europäischer Dachverband hat die Leitlinien zur 1370 grundsätzlich begrüßt. In der Tat bringen sie in wichtigen Punkten Klarheit, wovon unter anderem die Branche in Deutschland profitiert.  Wir haben bei der Brüsseler Konferenz aber auch deutlich gemacht, dass wir in entscheidenden Punkten die Rechtsauffassung der Kommission nicht teilen. Die Leitlinien haben zwar Gewicht für die Auslegung der bestehenden 1370, aber die Kommission darf kein neues Recht setzen.
In welchem Punkt bringen die neuen Leitlinien einen Vorteil? 
Ollier: Zunächst einmal fasst die Kommission damit ihre divergierenden Ansätze zur Marktordnung endlich einmal zusammen. Zuvor verfolgten die beteiligten Generaldirektionen unterschiedliche Ansätze. Die GD MOVE hat die 1370 als eigenständigen Rechtsrahmen akzeptiert. Im Unterschied dazu verfolgten die für den Wettbewerb zuständige GD COMP und die Binnenmarktler der GD MARKT einen deutlich restriktiveren Kurs. Bis in den Mai hinein hat zum Beispiel die GD MARKT versucht, unsere Branche der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) zu unterwerfen. Damit wäre das Sondervergaberecht der 1370 komplett ausgehebelt worden. Die 1370 erlaubt bestimmte Ausgleichszahlungen, ohne dass die Kommission mitredet. Bei einer „Block Exemption“ hingegen hätte Brüssel das Heft in die Hand bekommen und selbst bestimmt, welche Kriterien eingehalten werden müssen, um einer Vorab-Notifizierungspflicht der Ausgleichszahlungen zu entgehen. Mit den Leitlinien erkennt also die gesamte Kommission unser Sondervergaberecht an. Das ist ein Fortschritt.
Was verbuchen Sie außerdem als Erfolg?
Ollier: Nun, die GD COMP vertrat bislang die Auffassung, dass öffentliche Mittel auch im Verkehrsbereich nur für gemeinwirtschaftliche Aufgaben fließen dürften, nicht aber für kommerziell erfolgreiche Aktivitäten. Aber ob wir ein kleines Regionalbusbündel haben oder einen großen Metropolenverkehr: In Netzen werden Risiken gemischt. Gute Linien finanzieren die schlechten mit, wovon nicht nur der Betreiber, sondern die öffentliche Hand profitiert. Mit den „Network Effects“ hat nicht nur die Branche argumentiert, sondern auch die GD MOVE. Mit den Leitlinien erkennen auch die übrigen Generaldirektionen diese Besonderheit unseres Sektors an. Auch das ist positiv. Ein weiterer Mehrwert der Leitlinien besteht darin, dass sie die für unseren Bereich maßgeschneiderte und flexible 1370/07 klarer vom strengeren allgemeinen Vergaberecht abgrenzen.
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Haben Sie der Kommission am 18. Juni auch Kritikpunkte vorgetragen?
Ollier: Natürlich. Zur Konferenz am 18. Juni hatte die GD MOVE hochrangige Beamte entsandt: die für Politik zuständige Hauptabteilungsleiterin Marjeta Jager, ihren Abteilungsleiter Recht Eddy Liégeois sowie den für die Verordnung 1370 zuständigen Referenten Jan Scherp. Dass die Kommission Neues in die Leitlinien hineinschreibt, was sich so im Text der 1370 gar nicht findet – das geht gar nicht. Das haben wir von der UITP gegenüber den drei Beamten noch einmal sehr deutlich ausgedrückt. Auch Vertreter von UITP-Mitgliedsverbänden wie dem deutschen VDV oder der französischen UTP haben sich entsprechend geäußert.
In welchen Punkten werfen Sie der Kommission eigenständige Rechtsetzung vor?
Ollier: Da ist zum einen die Frage, wie groß das Gebiet einer zuständigen örtlichen Behörde sein darf. Die 1370 bestimmt eindeutig: Dieses Territorium darf nicht den kompletten Mitgliedsstaat umfassen. Das heißt: Unter Umständen darf das betreffende Gebiet sehr groß sein.  Nun versuchen die Leitlinien, den Radius auf die lokale Ebene einzugrenzen. Es ist bereits der zweite Anlauf der Kommission in diese Richtung. Sie hat entsprechende Formulierungen bereits in ihrem Entwurf zum 4. Eisenbahnpaket niedergelegt. Aber das EU-Parlament ist der Brüsseler Behörde in der 1. Lesung nicht gefolgt. Nun tritt die Kommission denselben Quark in ihren Leitlinien abermals breit.
Die Kommission argumentiert, einzelne Mitgliedsstaaten würden Netze teilweise so groß definieren, dass bei Neuvergaben praktisch nur die Altbetreiber zum Zuge kommen. Sie verweist unter anderem auf Beschwerden gegen Deutschland und Frankreich: Diesseits des Rheins würden alle Stadtverkehre in Querverbünden abgeriegelt, jenseits der komplette SPNV. Auch das deutsche Wettbewerbsrecht kennt das Prinzip der Losbildung, um Wettbewerb und Chancengerechtigkeit sicherzustellen. Der Kommissionsvorstoß ist also nachvollziehbar. Spricht sich nicht auch die UITP für fairen Wettbewerb aus? 
Ollier: Ja. Die UITP und ihre Mitgliedsverbände setzen sich für ein marktorientiertes Marktmodell ein. Dafür gehört für uns zwingend hinzu, dass die bewährten Direktvergabemöglichkeiten der zuständigen Behörden geachtet werden. Wenn die Kommission die seit dem 3. Dezember 2009 geltende Marktordnung für reformbedürftig hält, muss sie beim europäischen Gesetzgeber darauf hinwirken. Dazu bieten sich die anstehenden Beratungen zum 4. Eisenbahnpaket im Verkehrsministerrat an. Aber nicht eigenmächtig geltendes Recht verdrehen.
Worum geht es konkret? 
Ollier: Ich nenne hier beispielhaft den Streit um die Regiequote. Der Text der 1370 verlangt im Falle von Direktvergaben, dass der „überwiegende Teil“ selbst erbracht werden muss. Für uns heißt das: Subunternehmer dürfen 49,x % fahren. Die Kommission aber will Direktvergaben an eine Regiequote von 66,6 % koppeln, anders gesagt: die Subunternehmerquote bei einem Drittel der Gesamtleistung einfrieren.
Würde dies öffentliche Unternehmen nicht zu mehr Effizienz zwingen? 
Ollier: In der Praxis bringt diese eigenwillige Interpretation des geltenden Rechts europaweit viele Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen in die Bredouille. Ich nenne beispielsweise die Flämische Verkehrsgesellschaft De Lijn und ihr wallonisches Gegenstück TEC. Beide sind durch die Leitlinien doppelt gefährdet. Erstens haben sie knapp die Hälfte ihrer Busleistungen im Linien- und Schulbusverkehr an private Busunternehmen, meist Mittelständler vergeben. Das ist historisch gewachsen, aber auch politisch so gewollt, um die regional abgeschotteten Märkte teilweise zu öffnen. Zweitens decken De Lijn und TEC große Gebiete ab, weit über einen lokalen Radius hinaus.
Sie haben die anstehenden Beratungen zum 4. Eisenbahnpaket angesprochen. Die italienische Ratspräsidentschaft will unter anderem die Fragen des Marktdesigns vorantreiben. Wird es zu einer weiteren Marktöffnung kommen? 
Ollier: Die Diskussion darum wird jedenfalls geführt. Noch erfolgt sie vielfach ideologisch. Hier zeigen sich große Beharrungskräfte. Nach meiner Einschätzung rührt die eigentliche Dynamik aber vielmehr aus der desolaten Lage vieler öffentlicher Haushalte. Selbst in Ländern, die bislang wenig Neigung zum Wettbewerb im Nahverkehr zeigen, wächst das Interesse an neuen Wegen.
Auf EU-Ebene steht die Marktordnung immer im Fokus, aber zunehmend auch die Infrastruktur und der Vertrieb, Stichworte E-Ticketig und Smartphone-Auskunft. Wie positioniert sich die UITP in diesen Fragen?
Ollier: Die Infrastruktur und ihre Finanzierung sind für die gesamte Branche zentral. Wir werben dafür, öffentlich-private Partnerschaften zu erleichtern – und dafür, dass die EU künftig auch europäisch bedeutsame ÖPNV-Projekte fördert. Ein Vorbild könnte das GVFG-Bundesprogramm darstellen. Bislang orientiert sich die Union allerdings ausschließlich auf den Ausbau der Transeuropäischen Netze (TEN). Als UITP begrüßen wir sehr, dass sich die Kommission für eine IT-Offensive im öffentlichen Verkehr einsetzt. Aber zentrale Vorgaben, also Top-Down-Vorschriften, die europaweit alle anwenden müssten – das werden wir verhindern.
Womöglich bietet uns Google Transit bald ein durchgehendes Ticket vom Polarkreis bis an die Algarve an – und das mit wenigen Klicks und nahezu von überall. Manövriert sich die Branche nicht ins Aus, wenn sie diesem Trend nichts entgegensetzt? 
Ollier: Sicher wären solche komfortablen Lösungen für Langstrecken plus Vor- und Nachlauf schön. Aber macht es wirklich Sinn, regional gewachsene und bewährte Systeme für viel Geld, auch öffentliches Geld, so umzubauen, dass eine verschwindend kleine Minderheit von Nutzern davon profitiert? Oder sollten wir nicht viel stärker darauf schauen, es einer großen Zahl von Kunden in einzelnen Verkehrsräumen so einfach wie möglich zu machen, mit uns zu reisen? Deutschland kennt eine ähnliche Diskussion im Zusammenhang mit seinen Verkehrsverbünden und dem E-Ticket. Interessierte Kreise tragen diese Argumente immer wieder auch auf europäische Ebene.

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Interview von Ausgabe 27/14
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