„Stadtplanung und Mobilität sind zwei Seiten derselben Medaille“

Chloë Voisin-Bormuth

Chloë Voisin-Bormuth ist Leiterin Studienentwicklung des Pariser Thinktanks „La Fabrique de la Cité“ und befasst sich mit dem Zusammenspiel von Stadtentwicklung und Mobilität. Sie hielt am 18. Februar 2020 die Keynote auf der F.A.Z.-Konferenz „Mobilität in Deutschland“. Vorab sprach Voisin-Bormuth mit den Nahverkehrs-Nachrichten über internationale Ansätze für die Mobilität der Zukunft.

NaNa: An welcher Stelle kommt die Stadtentwicklung ins Spiel, wenn man über künftige Mobilitätslösungen diskutiert?

Voisin-Bormuth: Über Mobilität statt über Transport oder Reisen zu sprechen, ist alles andere als trivial. Was ist Mobilität? Es ist die Fähigkeit des Einzelnen, sich zu bewegen, um ein Programm an Aktivitäten zu absolvieren. Dieser Semantikwandel impliziert einen Paradigmenwechsel: Es geht nicht mehr darum, Pläne für den Transport in Fahrzeugen zu machen, sondern darum, zu verstehen, wie die Menschen in den Städten leben, um ihnen zu helfen, das zu tun, was sie wollen oder müssen. Stadtplanung und Mobilität sind zwei Seiten derselben Medaille.

NaNa: Was bedeutet das für die handelnden Akteure?

Voisin-Bormuth: Der erste Schritt, um über die Mobilität der Zukunft nachzudenken, besteht darin, das Denken und Handeln in Silos aufzubrechen, mit Planung auf der einen Seite und Transport und Infrastruktur auf der anderen. Einige digitale Akteure haben dies verstanden: Uber, Waze, und vor allem Google mit Sidewalk Labs und dem Vorschlag für die Entwicklung des Quartiers Quayside in Toronto.

NaNa: Sehen Sie bei Politik und Verwaltung in Städten die Bereitschaft, diese Zusammenhänge zu erkennen und zu berücksichtigen?

Voisin-Bormuth: Silos sind hartnäckig, aber einige Städte haben das Potenzial dieses Paradigmenwechsels erkannt. Die Stadt Montreal beispielsweise hat kürzlich ihre beiden Abteilungen für Stadtplanung und Mobilität zusammengelegt, um die Stadtentwicklung, die Gestaltung von Straßen und öffentlichen Räumen und die differenzierten Bedürfnisse ihrer Bewohner besser zu vereinen. Außerdem werden anstelle stadtweit gültiger Normen Mobilitätslösungen entwickelt, die an verschiedene Stadtteile angepasst sind. Die Stadt Pittsburgh treibt die Integration von Stadtplanung und Mobilität noch weiter voran. Angesichts des Zusammenhangs zwischen physischer und sozialer Mobilität führt Pittsburgh eine mehrdimensionale Politik durch. Sie zielt darauf, die Qualität der Infrastruktur, die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer, den Bau von bezahlbarem Wohnraum und die Nahversorgung zu gewährleisten.

NaNa: Muss eine künftige Stadtgestaltung nicht den für Mobilität verfügbaren Raum einschränken, um eine Verbesserung der Lebensqualität für die Bewohner zu erreichen

Voisin-Bormuth: Betrachten wir den Fall Houston: Da die Region zu den beiden am stärksten überlasteten in den USA gehörte, wurde 2008 beschlossen, den Katy Freeway von 20 auf 26 Spuren zu erweitern und damit die ursprüngliche Kapazität zu verdreifachen. Die Verkehrsüberlastung hat seitdem um 33 Prozent zugenommen. Mehr Angebot führt zu mehr Verkehr! Die Lösung zur Verringerung der Staus und der negativen externen Effekte des Verkehrs wäre daher eine Einschränkung des dem Auto zugewiesenen Platzes. Paris, Madrid und Kopenhagen haben diese Strategie übernommen. Aber: Da diese Strategie nicht ohne sozioökonomische Folgen ist, reicht sie nicht aus und kann nicht verallgemeinert werden. Da sie Mobilität mit Fahrzeugbewegungen gleichsetzt, geht sie am Thema Mobilität vorbei. Sie muss daher mit anderen Lösungen verknüpft werden, wie zum Beispiel der Optimierung der Fahrzeugnutzung, der Straßengestaltung zur Förderung der aktiven Mobilität, dem dynamischen Verkehrsmanagement oder der Berücksichtigung des Zeitfaktors der Fahrt. Es geht also weniger darum, den Raum für Mobilität zu reduzieren, sondern vielmehr darum, eine pluralistische und artikulierte Mobilität zu entwickeln.

NaNa: Was können deutsche Städte in dieser Frage vom Ausland lernen? Gibt es anderenorts besonders herausragende Beispiele?

Voisin-Bormuth: Angesichts der Feststellung, dass die Zunahme der Zahl der Fahrzeuge auf einem begrenzten Gebiet und die Kosten der Verkehrsüberlastung nicht nachhaltig sind, hat Singapur seit den 1970er Jahren eine sehr proaktive und systematische Mobilitätspolitik verfolgt. Ihre drei Säulen sind die Beschränkung des privaten Autoverkehrs, die Priorisierung des öffentlichen Verkehrs und die integrierte Stadt- und Verkehrsplanung. Diese Politik passt sich an neue soziale Herausforderungen wie das Altern an, indem sie den öffentlichen Raum so gestaltet, dass ältere Menschen sich dort weiterhin sicher bewegen können. Wien seinerseits steht seit zehn Jahren an der Spitze der Weltrangliste für Lebensqualität. Hier wird nicht eine Verkehrsart einer anderen entgegengesetzt, um die Bewohner der Peripherie nicht zu benachteiligen. Im Gegenteil, in Wien werden alle Verkehrsträger optimiert – auch wenn die Summe nicht immer ausreicht, um ein kollektives Optimum zu erreichen. Diese beiden Beispiele zeigen aber, inwieweit die Integration von Stadtplanung und Mobilität zu mehr Lebensqualität führen kann, sobald sie auf die politische Tagesordnung gesetzt wird.

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Artikel Redaktion Bus&Bahn
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