„Es geht nicht darum, Märkte abzuschotten"

Im Vorfeld der „Traffic Talks“ fordert NRW-Verkehrsstaatssekretär Horst Becker mehr und bessere Schienen im Land. Im ersten Teil des Interviews richtet der Grünen-Politiker an den Bund die Erwartung, Direktvergaben auf Schiene und Straße rechtlich abzusichern. Die künftige Horizontalverteilung der Reg-Mittel, die Neuschlüsselung der NRW-Landesmittel für den Nahverkehr und die Forderungen des Mittelstandes nach einer landesweiten Busförderung sind Themen des zweiten Teils. Die Fragen stellte ÖPNV-aktuell-Chefredakteur Markus Schmidt-Auerbach.

Herr Staatssekretär, Ihr Kollege im Bund, Klaus-Dieter Scheurle, hat den Kabinettsentwurf für ein neues PBefG als "mit den Ländern abgesprochen" bezeichnet. Entspricht das Ihrer eigenen Wahrnehmung?

Horst Becker: Das BMVBS und die Länder haben sich im vergangenen Sommer auf der Fachebene gemeinsam auf einen Gesetzentwurf verständigt. Hinterher hat sich gezeigt: dies war eine Alibiveranstaltung: Der von der Bundesregierung schließlich präsentierte Entwurf weicht - ohne dass dies mit den Ländern kommuniziert wurde - in wichtigen Punkten von dem damaligen Ergebnis ab. Die Behauptung, der vom Bundeskabinett beschlossene PBefG-Entwurf sei "mit den Ländern abgesprochen", trifft schlichtweg nicht zu. 

Professor Scheurle fügte hinzu, er rechne nicht mit Widerstand im Bundesrat gegen die Novelle. Sein Chef Bundesverkehrsminister Ramsauer dagegen hat sogar schriftlich die Erwartung geäußert, dass die Länder sich für eine stärkere Verbindlichkeit des Nahverkehrsplans einsetzen werden. Wie stark schätzen Sie den "Widerstand im Bundesrat" ein? 

Becker: Es wird erheblichen Widerstand geben - jedenfalls von den Ländern, die die Einschätzung der verkehrlichen Wirklichkeit parteipolitisch unabhängig von der Bundesregierung wahrnehmen dürfen. Behalten alle Länder die Positionen bei, die sie im Vorfeld des Gesetzentwurfs der Bundesregierung inder gemeinsamen Bund-Länder-Arbeitsgruppe vertreten haben, hat der Gesetzentwurf keine Chance. 

Wo steht die Diskussion im Bund-Länder-Fachausschuss (BLFA) Personenverkehr derzeit? 

Becker: Der BLFA unter Vorsitz des BMVBS hatte im Oktober 2010 den abgestimmten Gesetzentwurf gutgehießen. Im Februar 2011 übersandte das BMVBS den Ländern den davon abweichenden Entwurf. 

NRW hat kürzlich das Landes-ÖPNV-Gesetz ergänzt, um einen zweiten "Fall Regionalverkehr Münsterland" zu verhindern. Das legt die Vermutung nahe, dass Ihr Haus und die gesamte SPD-Grünen-Landesregierung eine bundesrechtliche Absicherung kommunaler Direktvergaben im PBefG unterstützen wird, wie dies von den kommunalen Spitzenverbänden massiv gefordert wird. Trifft unser Eindruck zu? 

Becker: Ja. Eine Direktvergabe insbesondere von Busverkehren an kommunaleigene Unternehmen ist europarechtlich zulässig, wenn nationales Recht nicht entgegensteht. Die Direktvergabe an solche Unternehmen ist notwendig und richtig. Die für den ÖPNV verantwortlichen Kommunen sollen selbst bestimmen können, dass ihr eigenes Unternehmen diese durchführt, wenn staatliche Zuschüsse gezahlt werden müssen. Andernfalls wäre die in Nordrhein-Westfalen gewachsene Struktur mit kommunalen, häufig im Querverbund finanzierten Unternehmen in Gefahr. 

Welche weiteren Punkte will NRW am PBefG-Entwurf der Bundesregierung nachgebessert sehen? 

Becker: Für uns ist - neben der rechtlich eindeutigen Absicherung der europarechtlich zulässigen Direktvergabe - entscheidend, die Bindungswirkung der Nahverkehrspläne zu stärken. Dies ist als Gegengewicht zum Vorrang der eigenwirtschaftlichen Verkehre unabdingbar. Dieser durch die Aufgabenträger aufgestellte Plan legt die öffentlichen Verkehrsinteressen und -bedürfnisse fest und sorgt damit für die Absicherung der Daseinsvorsorge. Die Liberalisierung des Personenfernverkehrs begrüße ich grundsätzlich. Sie stärkt den Wettbewerb und führt zugleich für die Kunden zu mehr und preiswerteren Beförderungsalternativen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält jedoch eine völlig unzureichende Regelung des Schutzes des staatlich finanzierten Nahverkehrs: ein Beförderungsverbot zwischen zwei Haltestellen, die einen Abstand unter 50 km zueinander haben. Viele Nahverkehrslinienin NRW sind länger als 50 km. Das bedeutet, es könnte damit ohne weiteres ein Busfernverkehr aufgebaut werden, der in einer nicht akzeptablen Konkurrenz zum staatlich geförderten Nahverkehr auf der Schiene stehen könnte. 

"Wir stehen für Wettbewerb!" - Dieses Versprechen haben Sie dem Verkehrsausschuss des Landtags im Zusammenhang mit der von Abellio angegriffenen VRR-Direktvergabe an DB Regio gegeben. Warum soll Wettbewerb nur auf der Schiene richtig sein, nicht aber im kommunalen ÖPNV? 

Becker: Wettbewerb im SPNV und ÖPNV um jeden Preis bedeutet, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wettbewerb auf der Schiene ist genau so wie im kommunalen ÖPNV dort sinnvoll, wo es passt. Wenn man Möglichkeiten schafft, im kommunalen ÖPNV Verkehrsleistungen auch direkt vergeben zu dürfen, dann geht es nicht darum, Märkte abzuschotten, sondern die Vorteile vorhandener Strukturen zu nutzen. Wir haben in Deutschland eine über Jahrzehnte gewachsene ÖPNV-Landschaft, die wesentlich durch kommunale Verkehrsunternehmen geprägt ist. Diese stehen oft im finanziellen Querverbund mit anderen kommunalen Unternehmen. Eine Zerschlagung dieses Systems würde dem ÖPNV nicht gut tun. Die kommunalen Aufgabenträger sollten deshalb weiterhin vor Ort die Möglichkeiten haben, maßgeschneidert auf ihre Bedürfnisse zwischen Ausschreibung und Direktvergabe wählen zu dürfen. 

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) will in den wachsweichen Direktvergabebestimmungen des PBefG-Entwurfs die Handschrift des wettbewerbsorientierten´Bundeswirtschaftsministeriums erkannt haben. Als NRW-Staatssekretär sind Sie in einer Doppelrolle - zuständig nicht nur für Verkehr und Infrastruktur, sondern auch für Wirtschaft. Wie definieren Sie Ihre Nahverkehrspolitik in diesem Spannungsfeld?

Becker: Meine Position ist: Wettbewerb dort, wo möglich, Direktvergabe dort, wo nötig. 

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Urteil zum Streit zwischen VRR, DB Regio und Abellio enge Grenzen für Schienen-Direktvergaben definiert. NRW hat sich im Vorfeld im Bundesrat dafür eingesetzt, das AEG direktvergabefreundlich nachzubessern. Halten Sie an dieser Initiative fest? 

Becker: Ja. Unsere Bundesratsinitiative ist notwendig, um eine rechtssichere Vorgehensweise der SPNV-Aufgabenträger bei Verkehrsvertragsabschlüssen zu ermöglichen. Es gibt zahlreiche Konstellationen - etwa wegen der Harmonisierung von verschiedenen Vertragslaufzeiten - in denen es wegen der Eigenart des Bahnwesens objektiv notwendig ist, partiell Verkehre direkt zu vergeben. Ordnungspolitische Erwägungen allgemeiner Art beseitigen diese Notwendigkeit nicht. Die Direktvergabe ermöglicht erst das Wettbewerbsverfahren. Das Europarecht räumt deshalb bewusst die entsprechenden rechtlichen Spielräume zur Direktvergabe ein. Die Aufgabenträger sollen diese Spielräume nutzen dürfen - und zwar in rechtssicherer Weise. Genau das gewährleistet unser Gesetzentwurf. 

Wie ist der Diskussionsstand?

Becker: Die Problematik ist zurzeit Gegenstand von Beratungen zwischen Bundesverkehrsund Bundeswirtschaftsministerium. Die Bundesregierung hat zugesagt, nach der Sommerpause Stellung zu beziehen.

Rechnen Sie mit einer entsprechenden AEG-Novelle noch in dieser Legislaturperiode? 

Becker: Da diese Frist ergebnislos verstrichen ist, erwägen wir den beim Bundesrat eingebrachten Antrag erneut zur Beratung aufzurufen. Die Angelegenheit drängt, weil im gesamten Bundesgebiet viele neue Verkehrsverträge zum Abschluss anstehen. Wir haben einen Vorschlag dazu unterbreitet, sind aber durchaus auch für Kompromisslösungen offen, wenn diese den praktischen Notwendigkeiten der Eisenbahnwirklichkeit entsprechen. 

SPNV-Marktführer DB Regio wirbt ausdrücklich um Direktvergaberegelungen, in den letzten Wochen zunehmend mit dem Argument, dass die Zahl der Bewerber um SPNVNetze schrumpft. So soll es im Dieselnetz Köln noch genau einen Bewerber gegeben haben - den Altbetreiber DB Regio. Sind Direktvergaben ein geeignetes Mittel, um dieses neue Problem zu lösen? 

Becker: Wettbewerb gibt es nicht ohne Bewerber! Tatsächlich war deren Zahl bei den letzten Ausschreibungen, so vor allem beim Kölner Dieselnetz, sehr übersichtlich. Als Hemmnisse haben Aufgabenträger u. a. Probleme bei der Fahrzeugfinanzierung ausgemacht. Dem versuchen sie mit verschiedensten Fahrzeugfinanzierungskonzepten entgegenzuwirken. Allerdings könnte jetzt die BGH-Entscheidung zur Direktvergabe ungewollt zu weiteren Problemen führen. Weil es zur Zeit, kaum eine Möglichkeit zur Direktvergabe gibt, häufen sich bundesweit in den nächsten Jahren die Ausschreibungen. 

Eine gesetzliche Möglichkeit zur Direktvergabe könnte hier zur zeitlichen Entzerrung beitragen oder müssten vielmehr andere Maßnahmen ergriffen werden, um die Bewerbervielfalt wieder zu erhöhen? 

Becker: Alle Bewerber haben einen hohen und kostenintensiven Aufwand, um ein Angebot zu erstellen. Deshalb selektieren sie sehr genau. "Wettbewerb" mit einem oder zwei Bewerbern führt jedoch oft nicht zu vernünftigen Preisen. Die Konkurrenten der DB Regio müssen jetzt bereit sein zu investieren und sich dazu grünes Licht von ihren Mutterkonzernen im Ausland holen! 

Herr Staatssekretär, lassen Sie uns im zweiten Teil unseres Interviews auf die ÖPNV Finanzierung in NRW blicken. Hier ist das Land teilweise umgeschwenkt: Den Unternehmen haben Sie über den neuen § 11a des Landes-ÖPNV-Gesetzes einen eigenen Anspruch auf Ausgleichsmittel zurückgegeben. Ihren Ansatz "Allgemeiner Vorschriften" hat Christiane Leonard vom Bundesverband Deutscher Omnibus-unternehmer (BDO) auf unserer Jahrestagung am 20. Mai grundsätzlich gelobt. Jetzt aber stellt sich heraus, dass Betreiber mit ohnehin hohen Tarifeinnahmen vielfach begünstigt werden, solche mit streckenbedingt höheren Kosten hingegen benachteiligt. Sollte hier im Interesse insbesondere der Schüler und Eltern vom "flachen Land" nachgebessert werden? 

Becker: Die Ausbildungsverkehr-Pauschale ist ein neues Finanzierungsinstrument, das allen Unternehmen eine verlässlicheund vor allem europarechtskonforme Förderung des Ausbildungsverkehrs sichert. Die Städte und Kreise erhalten vom Land die Mittel über einen Schlüssel, der alle Besonderheiten des bisherigen Ausgleichs nach § 45a PBefG an die Unternehmen abbildet. Deswegen kann es nicht zu Verschiebungen beider Mittelverteilung zwischen Ballungsgebieten und ländlichen Regionen kommen. Bei der Weitergabe der Mittel von den Aufgabenträgern an die einzelnen Unternehmen sind die Einnahmen im Ausbildungsverkehr der Verteilungsmaßstab. Dies führt in wenigen Ausnahmefällen zu einer stärkeren Umverteilung zwischen den Unternehmen, und zwar dann, wenn die Unternehmen sehr unterschiedliche Antragswerte beim §-45a-Ausgleich geltend gemacht hatten. Solche Veränderungen könnte man vermeiden, indem man als Verteilungsmaßstab wieder das System des § 45a PBefG zur Anwendung kommen ließe. Es ist allerdings sehr kompliziert, europarechtlich umstritten und vor allem nicht zukunftsfähig. Die vereinzelt auftretenden Härten können dadurch abgemildert werden, dass die Aufgaben-träger bis zu 12,5 % der Mittel nach einem abweichenden Schlüssel verteilen. 

Beim Ausgleich nach § 11a ÖPNV-Gesetz NRW gibt es, anders als bei der Vorgängerregelung nach § 45a PBefG, keine halbjährlichen Abschläge mehr. Etliche Unternehmen rutschen dadurch in eine Liquiditätskrise, insbesondere Mittelständler. Einige Aufgabenträger wollen ihnen mit einer vorgezogenen Auszahlung helfen. Angeblich rät die Landesregierung davon jedoch dringend ab. Trifft dies zu, und wenn ja: Warum wenden Sie sich gegen vorgezogene oder Abschlagszahlungen? 

Becker: Die Landesmittel werden in zwei Teilbeträgen im Mai und Oktober ausgezahlt, so dass die Aufgabenträger ebenfalls Abschlagszahlungen leisten können. Nicht alle Aufgabenträger konnten die zur Umsetzung des Ausgleichs erforderliche allgemeine Vorschrift vor der Sommerpause erlassen. Deshalb verzögert sich in diesem Jahr in Einzelfällen die Auszahlung der ersten Abschläge. 

Müssen die Modalitäten zum §11a ÖPNV-Gesetz NRW nachgebessert werden?

Becker: Landesrechtlich würden grundsätzlich keine Bedenken bestehen, eine vorläufige Auszahlung durchzuführen. § 11a ÖPNVG NRW steht dem nicht entgegen. Entscheidend ist jedoch, ob es bei den einzelnen Aufgabenträgern kommunalhaushaltsrechtlich möglich ist, die Zahlungen zum Beispiel aufgrund des Entwurfs der allgemeinen Vorschrift zu leisten. Deshalb sehe ich keinen gesetzlichen Änderungsbedarf. 

Ihr Haus hat einen Referentenentwurf für die Neuschlüsselung der drei Landespauschalen für ÖPNV, SPNV und Investitionen vorgelegt. Der Landesverband Nordrhein-Westfälischer Omnibusunternehmer (NWO) fordert, zur alten Fahrzeugförderung zurückzukehren und begründet dies unter anderem mit einem hochbürokratischen Flickenteppich an Fahrzeugstandards. NWO-Geschäftsführer Johannes Krems weist aber auch auf ein Fairnessdefizit hin: Kommunale Aufgabenträger könnten eigene Unternehmen gezielt bevorzugen. So fördere die Stadt Köln zum Beispiel ausschließlich Stadtbahnwagen. Folgen Sie den NWO-Argumenten?

Becker: Es ist vorgesehen, den Änderungsentwurf zum ÖPNVG NRW bald in den Landtag einzubringen. Angesichts der vielfach bestehenden europarechtlichen Bedenken wird die Landesregierung die Rückkehr zur landesweiten Fahrzeugförderung nicht gegen den kommunalen Widerstand betreiben, auch wenn die verkehrlichen Argumente des NWO nachvollziehbar sind. 

Der Streit zwischen VRR, DB Regio und dann Abellio hat seine Wurzeln in der Kürzung der Regionalisierungsmittel (RegMittel). Ein Kompromiss wurde erst dadurch ermöglicht, als Ihr Haus die nach wie vor bestehende Finanzlücke mit weiteren Millionenzahlungen überbückt hat. Kritiker vermuten eine Paketlösung: hier Landesmittel für DB Regio, dort DB-Investitionen ins Netz, insbesondere in den RRX. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein großes Infrastrukturvorhaben mit Betriebsaufträgen gekoppelt wird, siehe Stuttgart 21 und den großen Verkehrsvertrag von Baden-Württemberg und DB Regio. Haben die Kritiker Recht?

Becker:
 Der Konflikt zwischen dem VRR und der Bahn ist mit Hilfe des Landes behoben worden, aber mittels eines Kompromisses. Alle Seiten - das macht einen Kompromiss eben aus - haben dazu beigetragen, und zwar auch die Bahn. Wenn Sie so wollen, kann man dies deshalb in der Tat als eine "Paketlösung" bezeichnen. Ein Zusammenhang mit dem RRX ist nicht vorhanden. Der Rhein-Ruhr-Express ist ein Bedarfsplanprojekt des Bundes. Die Finanzierung erfolgt daher nicht mit Mitteln der DB AG, sondern muss aus Haushaltsmitteln des Bundes erfolgen. Ein Koppelungsgeschäft ist daher gar nicht möglich.

Was haben Sie den kommunalen SPNV-Aufgabenträgern im Rheinland und in Westfalen zum Ausgleich für die Extrazahlungen an den VRR geboten?

Becker: Wir sind in Nordrhein-Westfalen nicht auf dem Basar! Wir haben die Zusagen an den VRR aufrecht erhalten, die Finanzierung seines Defizits gemeinsam mit einer Kommunalumlage zu sichern. Das diente alleine dem Interesse der Fahrgäste. Alternativ hätten massiv Züge gestrichen werden müssen. Die beiden anderen Räume wissen, dass das nicht zu ihren Lasten gegangen ist. Vielmehr versuchen wir zurzeit mit der Revision des LandesÖPNV-Gesetzes, allen im gleichen Maße gerecht zu werden. 

Wird die künftige Schlüsselung der SPNV-Landespauschale den VRR begünstigen, zum Nachteil von NWL und dem NVR? 

Becker: Eindeutig nein! Wir haben durch ein Gutachten den tatsächlichen aktuellen Bedarf eines jeden SPNV-Aufgabenträgers ermitteln lassen. Daran knüpft dann eine Prognose für die nächsten Jahre an. Die Landesregierung wird im Gesetzgebungsverfahren umfassende Transparenz zur künftigen Finanzierung herstellen. 

Der Verteilungsschlüssel der RegMittel ist nicht nur innerhalb von NRW, sondern auch zwischen den Bundesländern ein steter Quell für Verteilungskämpfe. Halten Sie an der Forderung der CDU/FDP-Vorgängerregierung fest, dass NRW ein größeres Stück vom Kuchen zustehe?

Becker: Ja. Es ist aus unserer Sicht offensichtlich, dass der für Nordrhein-Westfalen bundesgesetzlich festgelegte Anteil an den Regionalisierungsmitteln angesichts der verkehrlichen Verhältnisse objektiv unterdimensioniert ist. Deshalb verpflichtet die Koalitionsvereinbarung die Landesregierung zu Recht dazu, auch die horizontale Verteilung der Bundesregionalisierungsmittelauf den Prüfstand zu stellen. Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland mit großen Ballungsräumen und viel Fläche. Dem wird die Verteilung der Regionalisierungsmittel seit langem nicht gerecht. So haben wir das geringste Zugangebot je Einwohner aller Flächenländer; und das liegt nicht daran, dass wir nicht mehr wollen oder brauchen.

Im Vorfeld der Revision der RegMittel auf Bundesebene lässt die Verkehrs-ministerkonferenz (VMK) den Bedarf der einzelnen Länder gutachterlich untersuchen. Gibt es schon Ergebnisse?

Becker: Die Ausschreibung des Gutachtens über den Arbeitskreis Bahnpolitik der Länder ist in der Vorbereitung. Es sollte vermieden werden, dass sich die Länder vom Bund in einem Verteilungskampf gegeneinander ausspielen lassen. Ziel muss es sein, gutachterlich belegt einen insgesamt höheren Beitrag einzufordern, um den realen Bedarf abdecken zu können. 

Wird das Gutachten eine neue Horizontalverteilung vorschlagen? 

Becker: Allerdings: Die Länder, die bisher von einer ungerechten Verteilung profitiert haben, sind nicht bereit, in einem zweiten Schritt das Problem der Horizontalverteilung anzufassen. Der Bund verhält sich in dieser Frage völlig passiv. Ihn interessiert lediglich der Gesamtbetrag, die Verteilung zwischen den Ländern dagegen nicht. Diese Blockade kann m. E. nur auf rechtlichem Wege gebrochen werden. Dem Bund und den übrigen Ländern muss bedeutet werden, dass die Festlegung des Gesamtbetrages der Regionalisierungsmittel und dessen Verteilung keine Entscheidung willkürlicher Art sein kann, sondern bedarfsgerecht erfolgen muss. Wir beabsichtigen, dieses Problem mittels eines Rechtsgutachtens zu klären. Notfalls müssen wir auch den Gang vor das Bundesverfassungsgericht gehen. 

Was können die Länder dem Bund anbieten, um eine Dynamisierung nicht nur der Reg- Mittel, sondern auch der Entflechtungsmittel zu erreichen?

Becker: In einer vom VDV und 13 Bundesländern in Auftrag gegebenen Finanzierungsstudie wird ein Mittelbedarf prognostiziert, der auf einem Preisniveau des Jahres 2010 basiert. Absehbar beträgt die Preissteigerung jedoch jährlich durchschnittlich 2,1 %. Bis zum Jahr 2019 ergibt sich eine Preissteigerung in Höhe von 14,5 % gegenüber dem Preisstand des Jahres 2010. Die Finanzierungsstudie betrachtet neben dem nicht statisch verlaufenden Mittelbedarf bei Neuinvestitionen auch entstandene Versäumnisse bei Re- oder sog. Ersatzinvestitionen, die stetig größer werden. Die Studie belegt, dass der im Entflechtungsmittelgesetz festgeschriebene finanzielle Bedarf der Länder in der Realität weit überschritten wird. Dies sind gute Gründe für eine Dynamisierung der Entflechtungsmittel. Da sind sich alle Länder einig! 

Der von Ihrem Haus veranstaltete Mobilitätskongress "Traffic Talks" will am 13. und 14. September der Frage nachgehen, ob sich die Schiene in NRW kurzfristig stärken lässt, um dem Jahr für Jahr aus politischen und finanziellen Gründen verschobenen Ausbau zu begegnen. Was wollen Sie Ihren Mitdiskutanten und dem Publikum sagen?

Becker: Der nachhaltige Ausbau der Schieneninfrastruktur ist für NRW unverzichtbar. Das gilt für den RRX, die Betuwe-Linie und andere Engpässe. Daneben gibt es aber auch kleinere Infrastrukturmaßnahmen, die sich kurzfristiger realisieren lassen und die an der einen und anderen Stelle für etwas Entspannung sorgen können. Solche Maßnahmen haben wirgemeinsam mit den verschiedensten Fachleuten, u. a. auch von Pro Bahn, dem VCD oder der Verbraucherzentrale, in einem von uns nach dem Regierungs-wechsel eingerichteten SPNV-Beirat erarbeitet. Das war mir ein ganz besonderes Anliegen und zudem ein wichtiger Punkt unserer Koalitions-vereinbarung, den wir bereits jetzt erfüllt haben. 

Wie wichtig ist die Schiene für die Bürger, die Wirtschaft und den Industriestandort NRW? 

Becker: Wie stark wir abhängig sind von der Mobilität auf der Schiene, das merken wir am besten, wenn der Verkehr auf der Schiene einmal nicht funktioniert. Deshalb möchte ich erinnern an den Tarifkonflikt beim Schienen-verkehr und den Streik der Lokführer: Die Menschen hatten Probleme, zur Arbeit zu kommen, Güter und Waren fehlten als Vorprodukte für den weiteren Fertigungsprozess. Und auf den Straßen stauten sich wegen deszusätzlichen Aufkommens die Verkehre. Kurz gesagt: Ohne Schienenverkehr wäre unsere moderne Gesellschaft nicht möglich. Und vieles von dem, was wir heute als unseren alltäglichen Wohlstand kaum mehr wahrnehmen, wäre schlichtweg undenkbar. Und ich denke, es wird Sie nicht verwundern, wenn ich Ihnen sage: Die Bedeutung des Schienenverkehrs wird in Zukunft noch weiter zunehmen - als klimaverträglicher Verkehrsträger und auch als Entlastung der überfüllten Straßen. Denn wir werden eine deutliche Zunahme der Verkehre haben, das geht aus der noch aktuellen Prognose des Bundes hervor: Der Güterverkehr in Deutschland wird bis zum Jahr 2025 um 70 % zunehmen, und auch beim Personenverkehr wird es noch Steigerungen geben. Und dass diese Steigerung im Verkehrsaufkommen nicht allein von der schon heute überlasteten Straße bewältigt werden kann, ist völlig klar. Die Schiene ist das Rückgrat des Personen- und Güterverkehrs in Nordrhein-Westfalen. Da wir zudem in erheblichem Umfang ein Transitland sind, wirken sich die Engpässe jedoch weit über unser Land hinaus aus. Um den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen und der Wirtschaft gerecht werden zu können, muss gerade die Schieneninfrastruktur deutlich verbessert werden. Sonst gibt es kein Wachstum und eine im Sinne der Umwelt dringend gebotene Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene scheitert bereits an fehlenden Kapazitäten.

Personen & Positionen
Interview von Ausgabe 72/11 + 73/11
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