„Auch eine Direktvergabe ist ein wettbewerbliches Verfahren"

Vor der Landtagswahl betont die baden-württembergische Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) die Orts- und Kundennähe ihrer Nahverkehrspolitik. Den PBefG-Referentenentwurf wertet sie als gute Diskussionsgrundlage, für eine AEG-Direktvergabeklausel signalisiert sie Unterstützung. Zentralismus bei Verkehrsverbünden lehnt die Ministerin ab, den Bus-Mittelstand versichert sie mehrfach ihrer Unterstützung. Bei der Entkoppelung von SPNV-Vertrieb und -Betrieb verzichtet Gönner, anders als noch auf dem 5. ÖPNV-Innovationskongress, darauf, den Verkehrsunternehmen "Lippenbekenntnisse" vorzuwerfen. Das Interview führte Chefredakteur Markus Schmidt-Auerbach.

Frau Ministerin Gönner, am 18. März will das Bundesverkehrsministerium seinen kürzlich vorgestellten Referentenentwurf für ein neues Personenbeförderungsgesetz (PBefG) erstmals mit den Ländern erörtern. Wie bewertet Baden-Württemberg die vorgeschlagenen Anpassungen des deutschen an den europäischen Rechtsrahmen?

Tanja Gönner: Unsere Ausgangsposition ist klar und unverändert: Wir brauchen eine vernünftige Weiterentwicklung des Personenbeförderungsgesetzes, aber keinen grundlegenden Systemwechsel. Bei einer ersten Bewertung möchte ich sagen, dass der Referentenentwurf eine gute Grundlage für die weitere Diskussion ist. Baden-Württemberg wird sich aktiv einbringen, gerade auch im Interesse unseres Mittelstandes.

Die Aufgabenträger haben im Vorfeld mehr Einfluss verlangt, um einen Nahverkehr aus einem Guss zu gewährleisten und vor ernsten Problemen gewarnt, wenn sich Private auf die lukrativen Strecken stürzen und der öffentlichen Hand nur die schlechten Risiken verbleiben. Sehen Sie diese Gefahr?

Gönner: Ein ausschließlich aufgabenträgerinitiiertes ÖPNV-System würde den Interessen der privaten und kommunalen Verkehrsunternehmen, insbesondere des mittelständischen Busgewerbes in Baden-Württemberg, nicht gerecht werden. Deshalb begrüße ich es, dass die Novelle um einen Ausgleich zwischen Busunternehmern und kommunalen Aufgabenträgern bemüht ist. Beispielhaft erwähne ich einige mir besonders wichtige Punkte. Es soll dabei bleiben, dass Verkehrsleistungen im ÖPNV vorrangig eigenwirtschaftlich erbracht werden. Durch eine Mittelstandsklausel für die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge sollen die Belange der mittelständischen Busunternehmen gewahrt bleiben. Ein für mich außerdem wichtiger Punkt ist, dass die von den Aufgabenträgern befürchtete "Rosinenpickerei" untersagt werden kann, wenn eine beantragte Verkehrslinie keine ausreichende Verkehrsbedienung gewährleistet, weil dadurch einzelne ertragreiche Linien aus einem Teilnetz oder einem Linienbündel herausgelöst würden. Es bleibt auch dabei - und auch dies ist mir sehr wichtig -, dass die unabhängigen staatlichen Genehmigungsbehörden als neutrale Instanz für die Erteilung der Liniengenehmigungen erhalten bleiben. 

Auch im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) ist eine Diskussion über den Rechtsrahmenentbrannt. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 8. Februar hat Direktvergabenmassiv eingeschränkt. Das Land Nordrhein-Westfalen drängt nun verstärkt darauf, Direktvergaben im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) zu verankern. Wird Baden-Württemberg diese Bundesratsinitiative weiterhin unterstützen?

Gönner: Die Direktvergabe ist eine von der EU ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, die wir weiterhin nutzen wollen. Im Übrigen ist ja auch eine Direktvergabe ein wettbewerbliches Verfahren. Es gibt eine Veröffentlichung im EU-Amtsblatt und es können sich weitere Bewerber beteiligen. Wir werden unsere 15 Regionalnetze sehr genau daraufhin anschauen, welches wir wie vergeben. Derzeit sind wir dabei das BGH-Urteil im Hinblick auf Vergabeverfahren in Baden-Württemberg abschließend juristisch noch zu prüfen. Dessen ungeachtet könnte ich mir vorstellen, dass wir uns schon rein vorsorglich einem Vorstoß zu einer bundesrechtlichen Klarstellung anschließen.

Sie haben angekündigt, bei der Vergabe dieser Netze, die alle in den nächsten fünf Jahrenauslaufen, den Vertrieb künftig vom Betrieb zu entkoppeln und ihn in separaten Verträgen zu vergeben. Was versprechen Sie sich davon?

Gönner: Bei der Neuvergabe der Nahverkehrsleistungen streben wir nicht nur günstigere Preise, sondern vor allem auch wesentliche Verbesserungen für die Kunden an. Ein Aspekt ist dabei ein kundenfreundlicher Vertrieb. Der Verkaufsvorgang ist ja der erste und entscheidende Kontakt der Verkehrsunternehmen mit den Fahrgästen. Gerade im ländlichen Raum wurde die Zahl der personenbedienten Verkaufsstellen in den letzten Jahren deutlich reduziert. Standorte wurden entweder ganz aufgeben oder die Öffnungszeiten stark eingeschränkt. Diesem Trend wollen wir entgegen wirken und mit der Vergabe dieser Dienstleistungen im Wettbewerb dazu beitragen. Kundenfreundlichkeit im ÖPNV weiter zu stärken.

Welche Rolle spielen neue, elektronische Vertriebsformen bei der Entkoppelung von Betrieb und Vertrieb im SPNV?

Gönner: Durch die getrennte Vergabe beider Leistungen wollen wir auch neue Vertriebsformen unterstützen. In den letzen Jahren ist der Umfang des Verkaufs über das Internet enorm gestiegen; keine Handelskette kann es sich leisten, auf dieses Segment zu verzichten. Die Deutsche Bahn ist hier bereits weit vorangeschritten. Der übrige öffentliche Nahverkehr scheint sich mit dem Internetvertrieb aber teilweise noch etwas schwer zu tun. Ich freue mich deshalb, dass auf dem 5. Innovationskongress derartige Lösungen auch für Verbünde und mittelständische Verkehrsunternehmen vorgestellt worden sind, zum Beispiel das Internetticket von Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) und Verkehrsverbund Stuttgart(VVS).

Wo steht Baden-Württemberg beim E-Ticket?

Gönner: Mittlerweile sind es nur noch sechs von 22 Verkehrsbünden im Land, in denen noch keine konkreten Umsetzungsprojekte zu elektronischen Fahrscheinen anstehen oder verwirklicht wurden, seien es Check-in/Check-out-Verfahren, berührungslose Chipkarten oder ein Handyticket. Dieses sollte möglichst auch in den Nachbarverbünden genutzt werden können. Sehr erfreulich ist es, dass sich mittlerweile auch die Deutsche Bahn vollständig in die Verfahren integriert hat und aktiv bei deren Ausbau mitarbeitet.

Die Opposition im Landtag will den Nahverkehr stärken, indem die "Kleinstaaterei" beiden Verkehrsverbünden überwunden wird. Wie stehen Sie dazu? 

Gönner: Solche zentralistischen Ansätze sehe ich sehr zurückhaltend. Und zwar aus mehreren Gründen. Die dezentrale Struktur der Verbünde hat ja durchaus auch Vorteile: Durch die kurzen Wege und den direkten Kontakt zwischen den Stadt- und Landkreisen als Aufgabenträgerfür den ÖPNV auf der Straße und unseren mittelständisch geprägten Busunternehmen ist gewährleistet, dass sich die Angebote eng an den Bedürfnissen der Kundenausrichten. Über die regionale Sicht gelingt es besser für die Menschen vor Ort ein attraktives Angebot zu entwickeln, als über eine zentralisierte Planung. Aus Sicht des Fahrgastes ist ohnehin nicht die Zahl der Verbünde entscheidend, sondern das Angebot. Und es findet außerdem ja auch bereits eine verbundübergreifende Zusammenarbeit und Abstimmung statt, die sogar je nach Region teilweise über die Landesgrenzen hinaus geht und die Raumschaften im Blick hat, in denen sich die Menschen bewegen. Die Verkehrs- und Tarifverbünde sorgen für die regionale Erkennbarkeit und damit für die Identifikation der Menschen mit "ihrem" ÖPNV. Im Übrigen wird von den Grünen in Baden-Württemberg, die hier eine Zentralisierung einfordern, gerne immer auf die benachbarte Schweiz als Vorbild verwiesen. Dort gibt es für die über sieben Millionen Schweizer insgesamt 20 Verkehrsverbünde; in Baden-Württemberg sind es für über zehn Millionen Menschen 22 Verkehrsverbünde.

Bevor ein SPNV-Auftrag vergeben werden kann, muss zunächst einmal Geld für die Infrastruktur und den Betrieb zur Verfügung stehen. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass der Bund bei der Revision der Regierungsmittel noch eine Schippe drauflegt?

Gönner: Die Revision der Regionalisierungsmittel steht 2014 an. Wir müssen uns auf sehr schwierige Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium einstellen. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, den Status quo zu verteidigen, sondern den unabweisbar notwendigen Mehrbedarf an Verkehrsleistungen finanzieren zu können. Nach den aktuellen Planungen gehen wir allein für Baden-Württemberg von einer erforderlichen Steigerung der Schienenverkehre um etwa 30 % aus, um den Bürgerinnen und Bürgern einen noch attraktiveren SPNV anbieten zu können. In der Verkehrsministerkonferenz haben wir entschieden, durch ein Gutachten diesen notwendigen Finanzbedarf nachzuweisen - im Interesse einer reibungslosen und nachhaltigen Mobilität für Menschen, Wirtschaft und Umwelt.

Mehr Verkehr braucht neue Infrastruktur. Auch dort wird heftig um die Finanzierung gerungen. Wo kommt künftig das Geld dafür her?

Gönner: In Baden-Württemberg sind Streckenstilllegungen und Leistungseinschränkungen kein Thema. Es sind im Gegenteil die Kapazitätsengpässe im Bahnverkehr, die uns zunehmend zu schaffen machen. Auch bei der Finanzierung der erforderlichen ÖPNV-Infrastrukturstehen wir vor grundlegenden Herausforderungen. In Folge der Föderalismusreform läuft die bisherige GVFG-Förderung 2019 aus. Es wäre naiv zu glauben, bis dorthin sei die Verkehrsinfrastruktur quasi fertig. Die Finanzkraft der kommunalen Vorhabenträger wird aber nicht ausreichen, um dem notwendigen Aufbau- und Erhaltungsbedarf gerecht werden zu können. Mit diesen Problemen können und wollen wir die Verkehrsunternehmen, aber auch die Kommunen nicht alleine lassen. Wir haben daher vor wenigen Wochen ein eigenes Landes-GVFG in Kraft gesetzt, das zum einen die verkehrliche Zweckbindung der Bundesmittel über das Jahr 2013 hinaus festschreibt und zum anderen Planungs-und Finanzierungssicherheit über das Jahr 2019 hinaus für wichtige Infrastrukturvorhaben sicher stellen soll.

Ein Landes-GVFG löst aber nicht das Problem des Bundes-GVFG für große Infrastrukturvorhaben über 50 Mio. EUR Investitionsvolumen, das 2019 ausläuft. Wie geht es dort weiter?

Gönner: Es ist richtig: Bislang ist keine Nachfolgeregelung in Sicht. Der Bund beharrt darauf, dass dieses Programm 2019 endet. Ich bin der Überzeugung, dass wir auch für diesen Bereich dringend eine Nachfolgeregelung brauchen. Deshalb werde ich mich bei den anstehenden Verhandlungen mit dem Bund zur Evaluierung des Entflechtungsgesetzes für eine Fortsetzung stark machen. Das "Nein" des Bundes sollte hier nicht das letzte Wort sein.

Personen & Positionen
Interview von Ausgabe 18/11
Interview von Ausgabe 18/11